"In jedem von uns manifestiert sich das Wunder des Universums in derselben Weise wie in den Sternen, im Wasser, im Wind oder in den Tieren. (...) Befreite Menschen müssen ziemlich abweisend auftreten, weil eine Gesellschaft, die nicht wirklich an Gleichheit glaubt und sie praktizieren kann, diese Art von Beziehung als Bedrohung erleben würde. Es würde als äußerst subversiv gelten."
Alan Watts, in: NICHTDUALITÄT IN AKTION (aus: Über den Geist hinaus, posthum 2020)
~ N E U R O P O E S I E ~
Tom de Toys, 23.9.2013 © POEMiE™
FALSCHER FRÜHLING
(LEGENDE VOM PLÖTZLICHEN PARADIES)
die tiere spielen überall verrückt
es ist für einen tag nochmal geglückt
der sommer kehrt sehr sommerlich zurück
kein wind die sonne bahnt sich ihren weg
die wolken warten – spätaufsteher sind
entzückt! und reiben sich die augen aus
kein gott erfindet solch ein...
unwahrscheinliches theaterstück
der sommer kehrt sehr sommerlich zurück
die tiere spielen überall verrückt
fünf eichhörnchen
(anscheinend schwindelfrei)
verfolgen sich von baum zu baum
die frage nach dem sinn ist einerlei
fünf papageien
schreien um die wette doch ich
seh die grünen federn kaum
am horizont zieht die gewitterfront
ganz knapp vorbei an der idylle
etwas wind die sonne bahnt sich ihren
weg durch die galaktisch leere fülle
auf dem morschen steg sitzt ein grau-
reiher ach das reimt sich auf au weia
rette sich wer kann vor deutscher
dichtung enten quaken gänse schnattern
nachrichten verkünden hinrichtung
gedanken rattern ohne mündung
bis zur überlichtgeschwindigkeit
dann macht sich die erkenntnis breit
an einem montag ist nie sonntag
und an sonntagen scheint keine sonne
ich beweise leise wort für wort
den tod der lyrik als selbstmord
denn niemand stellt die großen fragen
an montagen die sich sonntag nennen
unter meinen fingernägeln brennen nur
die nagelbetten neuronaler datenbahnen
niemand kann die lyrik retten
ohne das gehirn als gott zu ahnen
in der postpoetischen idylle
fehlt nur eins: die friedhofsstille.
dafür gibts ne andre pille
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Tom de Toys, 26.5.2023 © POEMiE™
RESET AM NULLPUNKT
(SELBSTLÄUFERHIRN)
das ende war nah
die überraschung groß
bin wieder aufgewacht
hier is was los! ich:
hatte nur geträumt,
die ärzte hätten mich
OPERIERT – aber die
schwestern spaßen
als sei nichts passiert
doch doch, minimal
invasiv durch das zeit-
loch hindurch wurde
alles im innenraum
inspiziert und repariert
aber der älteste schmerz
blieb unerklärlich aus
medizinischer sicht ist
wieder alles organisch
ok diese stiche im bauch
bleiben wahrscheinlich
ein lebenslänglicher
mystischer brauch der
den feinen unterschied
zur maschine darstellt
deren hauch an algo-
rithmischer intelligenz
keine unlogischen
komplikationen kennt
Bruno Brachland Nr.38, 28.5.2011 © POEMiE™
HOHLKNOCHENWESEN
(HOLLOW BONE BEING)
An jedem tag
stirbt ein anderer
während wir unsere ach
so verspielten zungen
ganz sorglos ins licht halten
und die gesichter verschmelzen
als wären wir das verbotene leere
im spiegel des gottes hinter gott
aber auch ich bin nebenbei
irgendwann dran und auch du
mein leibhaftiger engel
noch schauen wir
in die tagtägliche sonne
verfolgen die wolken und
lieben uns so gut wir können
bis zu dem endgültigen ende
uns bleibt keine wahl
wir sind todgeweihte
als traumgeborene
von anfang an
würde ich dürfte ich
mit dir ins ewige abseits
verschwinden bevor
einer den anderen
nur noch vermissen kann
ich würde mit dir zusammen
das weite und offene suchen
zur gleichen zeit
an derselben stelle
den letzten gemeinsamen atem
ausstoßen und abheben und
fliegen ja wenn du mich küßt
kann ich vergessen daß
wir schon bald zu staub zerfallen
beim küssen sind wir
diese wirklich vorhandenen
und wir werden es
immer gewesen sein
Tom de Toys, 16.11.1995 © POEMiE™
AN DIE ENKEL
wir werden uns irgendwann finden
wir müssen
umgeben von marionetten
ich kann nicht dauernd weinen
wieder zuhause
herbstduft
fast winter sagt die hoffnung
meine seele ist zu leer um zu glauben
ich bin noch immer jung
und so müde
milde sonne
das bunte laub
kühle brise am hügel
die felder wie damals
das wäldchen
ich war noch jünger
wohlbehütet und verspielt
wer läßt mich jetzt in ruhe
arbeiten
wo seid ihr bloß
es ist so wenig echtes da
ich will nicht lügen um zu leben
überall ist großstadt
bilderkäfige ohne sehnsucht
wer klärt meine eltern auf
ich habe freunde wenn ich schluß mache
jedes jahrhundert einige
kalte trauer zur faust geballt
im auto sitzen
eine zärtliche berührung könnte helfen
das universum ist so groß
die schlote qualmen weiter
heilung wartet
schon wieder meinen namen vergessen
sie treiben ihre späße mit uns
und wundern sich dann
mein wehrloser ekel
beachtenswerte leistung
Bruno Brachland Nr.57, 2.1.2013 © POEMiE™
(UN)BEQUEMER ABSCHIED
ich habe das recht
meine mutter zu vermissen
wenn sie tot ist und
ich habe das verfluchte recht
meinen vater zu vermissen
wenn er tot ist
ja ich habe das recht
um den verlust zu trauern
nicht obwohl ich schon erwachsen bin
nein sondern weil ich alt genug bin
die bedeutung ihrer liebe
richtig einzuschätzen
weil ich alt genug bin
um den tod schon selbst
am viel zu früh erschöpften leib
zu spüren ohne sprüche
ohne drumherumgerede
ohne trost durch gott
durch freunde oder andere
ablenkungen ausreden und
beschönigungen nein ich spüre
den verlust in seiner ganzen
gemeinheit seiner brutalität
mit der meiner seele ein teil
herausgeschossen wird
das niemand ersetzen kann
niemand heilen kann
und ich vorallem niemandem
schuld daran geben kann
weil ich nicht religiös bin
weil ich die leere hinter der
vorstellung von gott erfuhr
und die erfahrung leider
viel mehr zählt als jede
idealistische hoffnung
ICH MACHE MIR NICHTS VOR
der tod ist schrecklich
jeder tod der tod ist
nicht im geringsten schön
der tod ist keine spur
erlösung oder erleichterung
der tod ist und bleibt der tod
die ganze vergangenheit
ohne gegenwart ohne zukunft
ohne möglichkeit
ihn jemals rückgängig zu machen
DER TOD IST DER TOD
im gegensatz zum leben
denn es gibt sie diese gegensätze
da hilft weder eine
esoterische erleuchtung
noch der sprung auf eine andere
bewußtseinsebene denn dort
wo dieser tod als tod wohnt
ist die trauer der verlust
die wut der hass der schmerz
und das bedürfnis daß
das leben ewig dauern möge
und wir immer glücklich wären
nie ans ende denken müßten
sondern gegenwarten blind vor
freude aneinander reihen würden
tanzend lachend singend
schwerelos und dankbar
für das wundervolle glück sich
in die arme fallen zu können in
die strahlenden augen zu schauen
den anderen als teil der welt
zu spüren seine unendliche
anwesenheit zu genießen
ohne sehnsucht ohne angst
vor der vergänglichkeit
die uns hinfort reißt
in den strom der zeiten
der epochen der verwandlung
aller galaxien und wer weiß
wie lange dieses universum
existiert wo keiner weiß
warum es überhaupt
E X I S T I E R T
und alle tolle theorien haben
die mir nicht im geringsten helfen
meine trauer zu bewältigen
ich hasse trauerbewältigungsarbeit
ich will nicht immer alles
V E R A R B E I T E N müssen
was man nicht verarbeiten kann
der tod ist ein fluch
und kein segen sage ich allen
strategen die an unserer wut
verdienen vonwegen große worte
lange sätze das leben hat
weder boden noch auffangnetze
wir haben das recht
unsere eltern zu vermissen
und wir haben das recht
den verlust eines freundes
als verlust zu empfinden
und zu schreien und zu jammern
anstatt uns an lügen zu klammern
die alle in schach halten
um den planet zu verwalten
normalität und täglichen trott
in solch einem augenblick
ist das der größte schrott
denn hier geht es um liebe
und den verlorenen kampf
um das erblühen einer knospe
gegen das unheimliche
unschlagbare unsichtbare monster
das gefräßige urmonster
gegen das keine waffen wirken
weder gebete noch technologien
können es stoppen nur asche
trümmer und brachland bleibt
das erstarren vor schreck
an den offenen gräbern
es ist vorbei der krieg ist aus
hier stehen nur lebende
allzu lebende verlierer
mit ihren frischen rosen
deren blätter schon welken
wenn sie nicht aus plastik sind
diese kirmes ist organisch dieser
zirkus spielt mit echten zellen
ich muß mich in jeder sekunde
entscheiden ob ich wirklich
dieses leiden am verfall der dinge
ertrage ob ich allen illusionen
entsage und das echte leben wage
hier und jetzt ist alles echt
ich nehme mir das simple recht
zu lieben was dahintreibt und
am horizont verschwindet denn
ich habe mir bei meiner geburt
das monster tod schon einverleibt
und werde bald der nächste sein
an dessen grab ein fremder steht
der diese welt auch nicht versteht
und ohne antwort weitergeht
so wie die sonne sich ganz
schleichend weiterdreht zu
seinem grab gleich nebenan mit
einem kissen unterm arm bereit
daß andere ihn dann vermissen